>1941HADAMAR2016< (Teil 2)

"Das muss doch voll schlimm sein, da zu arbeiten!"

Der Raum, in dem ich arbeite, wurde früher genutzt, um die Patienten zu messen, zu wiegen und zu fotografieren, bevor man sie dann im Keller unter mir vergaste. Im heutigen Ausstellungsraum mussten sie sich auskleiden. Wo sich das 'Sterbezimmer' befand, in dem in der zweiten Mordphase gezielt mit Spritzen getötet wurde, weiß man bis heute nicht. „Wie kann man denn nur an so einem Ort arbeiten?“, wurde ich gefragt, oder: „Das muss doch voll schlimm sein, da zu arbeiten!“

Erstaunlicherweise ist es das nicht. Und an diese Erkenntnis schließt sich eine Frage an, die ich mir selbst stellte: Muss ich mich deswegen jetzt schlecht fühlen? Muss ich mich bei jedem Lachen imaginär bekreuzigen und zur Räson zu bringen?

 

Meine zweite Praktikumswoche in der Gedenkstätte Hadamar brachte mir vor allem Fragen wie diese, und im Dialog mit meinen Kollegen und Kolleginnen stellte sich heraus, dass die Beschäftigung mit diesen Fragen gewissermaßen zum Alltag gehört, nicht nur, weil sie von außen immer wieder an einen herangetragen werden.
Das Thema der Gedenkstätte Hadamar ist eines der grausamsten der Weltgeschichte. Hunderttausende Menschen wurden im Dritten Reich in deutschen „Heilanstalten“ vergast, vergiftet und vernachlässigt, alleine in Hadamar waren es 15.000. Aber keinem Einzigen von ihnen wäre damit geholfen, wenn die Pädagogen, Historiker, Archivare, FSJler und Praktikanten, die heute dort arbeiten, sich jeden Tag voller Gram den Mönchberg 'hinaufkopfschüttelten', um dann acht Stunden lang um die Opfer zu trauern. Pietät ist ein Wort, das in diesem Zusammenhang oft fällt. Und Pietät ist ein Begriff, der sich im Kontext mit Religion, Vergangenheit(sbewältigung), gegenwärtigen gesellschaftlichen Normen und Empathievermögen immer wieder neu definiert. Ist es pietätlos, in einer Gedenkstätte zu lachen, Selfies zu schießen oder ein Gruppenfoto auf dem Anstaltsfriedhof zu machen? Ist es pietätlos, wenn Zehntklässler wild und zusammenhanglos im Besucher-Gedenkbuch herumkrakeln und "Ey, du Spast!“ durch die Gänge rufen? Ich lasse diese Fragen hier bewusst offen - und die Liste ließe sich natürlich endlos erweitern.

 

Ich für mich bin zu dem Schluss gekommen, dass es vor allem eines braucht: Reflexion.

Im letzten Semester habe ich gelernt, dass dies (zumindest laut einiger Vertreter der Philosophischen Anthropologie) die Fähigkeit ist, die den Menschen vom Tier unterscheidet, also gehe ich davon aus, dass sie von allen menschlichen Besuchern der Gedenkstätte erwartet werden kann. Jeder, der einen Ort wie die Gedenkstätte Hadamar aufsucht, steht vor der Aufgabe, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, zu überprüfen: „Wie kann ich diesem Ort begegnen?“.


Wenn ich, während ich in der Bibliothek sitze und arbeite, tatsächlich einmal daran denke, was früher in diesem Raum geschehen ist, lächle ich in mich hinein und fühle mich sogar ein kleines bisschen überlegen. Denen überlegen, die damals ihr menschenverachtendes Verhalten hier ausleben konnten und so viel Unheil angerichtet haben. Daran kann ich nichts mehr ändern - aber ich weiß, dass es vermutlich nicht im Sinne der Täter gewesen wäre, dass dieser Ort heute ein Ort des Friedens, der Aufarbeitung und der Begegnung ist. In Hadamar treffen Menschen mit und ohne Behinderungen, Menschen aus verschiedenen Ländern, mit verschiedenen Religionszugehörigkeiten und sexuellen Orientierungen aufeinander, um gemeinsam an einer lebendigen Gedenkkultur teilzuhaben. Jeder bringt mit, was er hat, jeder reagiert auf das Gesehene und Erlebte auf seine Weise. 

Und bevor man darüber urteilt, sollte man es erst einmal geschehen lassen. Alles andere wäre meiner Meinung nach nicht im Sinne eines solchen Ortes. 

Kommentare: 3 (Diskussion geschlossen)
  • #1

    Christian Günther (Sonntag, 13 März 2016 19:21)

    Hallo Julia!

    Vielen Dank für deine Eindrücke, die ich mit meinen Erfahrungen aus dem Ns-Dok in Köln teilen kann.
    Wenn ich Gruppen durch Ausstellung und Gedenkstätte begleite, erlebe ich ganz ähnliches und versuche in meinen Führungen eben auch diese Reflexion anzustoßen.
    Wirklich sichtbar machen lässt sich das bei uns an ein paar Orten in der Gedenkstätte: Der ehemaligen Hinrichtungstätte im Innenhof, später als Parkplatz und Mülltonnenabstellplatz genutzt , heute für Besucher zugänglich und mit Spiegeln verkleidet.
    An diesem Ort treffen soviel Ebenen aufeinander, dass man die Reflexion sprichwörtlich sehen kann.

    Was die Arbeit in der Gedenkstätte mit mir anstellt, weiß ich allerdings noch nicht so genau. Vielleicht gibt es ja auch eine Art "langzeitwirkung", die noch nicht absehbar ist?

    Ich bin jedenfalls gespannt auf weitere Artikel!

    Viele Grüße
    Christian

  • #2

    Julia Frick (Sonntag, 13 März 2016 21:11)

    Lieber Christian,
    ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es in diesem Fall auch eine "Langzeitwirkung" gibt, bzw. ich glaube, dass diese Wirkung insgesamt nicht statisch ist, sondern immer im Wandel. Für mich ist das vorerst nur eine kurze Visite in dieser Gedenkstätte. Aber ich bin seit jeher Analytikerin, Mitfühlerin und Beobachterin gleichzeitig. Ein recht anstrengendes Dasein, aber ein erfüllendes. :D
    Alles Liebe, Julia

  • #3

    Horst Zitzer (Donnerstag, 17 März 2016 21:59)

    Liebe Julia, ich finde deine Arbeit äußerst bemerkenswert und die Informationen sehr interessant.

    Liebe Grüße

    Horst