Eine kleine Geschichte vom Bewahren
In der Bibliothek der Gedenkstätte Hadamar steht er, optisch irgendwo zwischen Röntgengerät und futuristischer Beam-Maschine angesiedelt, und wartet stillschweigend auf seinen Einsatz – der Buchscanner. Ich kenne einen solchen aus der Universität, musste jedoch in der Gedenkstätte zu meiner Schande gestehen, dass ich ihn noch nie benutzt hatte. Das sollte sich nun ändern.
Die Digitalisierung von Vergänglichkeit
Die Arbeit mit dem Buchscanner erfreut sich, wie ich feststellen konnte, äußerst unterschiedlicher Beliebtheit – man könnte sagen, die Motivation, Akten zu scannen bewegt sich auf den Skalen ‚langweilig‘ bis ‚ärgerlich‘ und ‚spannend‘ bis ‚entspannend‘.
In meiner dritten Praktikumswoche war ich also dran. Bedienung: einfach, Zeitaufwand: groß. Motivation: vorhanden! Denn nach zwei Wochen, in denen ich mich in erster Linie mit Literatur zum Thema „Eugenik bis 1933“ beschäftigt hatte, lechzte mein Hirn nach einer gleichförmigen Tätigkeit, bei der ich mich nicht ständig aufregen musste...
Nun, in einer Gedenkstätte geht es vorrangig darum, Inhalte zu vermitteln und deren Quellen zu bewahren. Das bedeutet neben der fachgerechten Lagerung der alten Krankenakten im Archiv ebenso die Digitalisierung derselben. Dass Daten (und deren Formate) im schlimmsten Falle ebenso vergänglich sind wie Papier, ist ein ganz anderes Thema, Fakt aber ist, dass um eine Digitalisierung von Kulturgut kein Weg herumführt. In diesem Sinne werden in der Gedenkstätte Hadamar die vielen tausend Krankenakten der Opfer von NS-Euthanasie und Zwangssterilisierung Stück für Stück digitalisiert. Der große Buchscanner ist da sowohl schonender für die Akten als auch allgemein nutzerfreundlicher. Soweit die Theorie.
Ruhe, Bewahren und Ruhe bewahren
Nach einem Nachmittag des Aktenscannens stellte sich plötzlich heraus, dass der Grünstich auf den Seiten – es waren über hundert – nicht den allgemeinen Wünschen entsprach. In diesem Moment wurde mir klar, dass es nicht nur um das Bewahren von Akten, sondern auch um das Bewahren der inneren Ruhe ging: Alles nochmal von vorne. Immerhin, es waren keine produktiven Erzeugnisse, die ich da verloren hatte (ich erinnere mich da an so eine halbe Hausarbeit, die plötzlich verschwunden war...), sondern nur Zeit. Und etwas, das einem nicht gehört, kann man realistisch betrachtet auch nicht verlieren.
Als ich dann also ein zweites Mal mit der gleichen Akte vor dem Buchscanner saß, begann ich nachzusinnen: Bisher hatte ich in der Gedenkstätte bewusst zwischen Thema und Tätigkeit getrennt. Das Thema NS-Euthanasie bereitet selbstredend keinen Spaß – die Arbeit, die Tätigkeiten, die sich darauf beziehen aber schon: Das Entziffern alter Dokumente, das Rekonstruieren von Lebensläufen, Archivarbeit, Vermittlung. Es ist die Wertschätzung von Menschenleben, die – wie das Leben meines Großvaters – einst zum Vergessen verdammt waren.
Scannen für das kollektive Gedächtnis
Wenn man aber vor diesem Scanner sitzt, ein Blatt nach dem anderen auflegt und am Schluss die Dateien umbenennt, kann man schnell zu dem Schluss kommen, dass die reine Tätigkeit extrem öde ist. Und genau an diesem Punkt kamen für mich Thema und Tätigkeit wieder zusammen. Denn ich scanne hier keine Unisachen, keine Bücher, die ich nicht entleihen darf, keine Urlaubsfotos und keine Zeugnisse. Ich scanne – im übertragenen Sinne – ganze Leben. Ich helfe dabei, dass das, was an einen Menschen erinnert, weiterhin erhalten bleibt. Ich lerne die Geschichten der Opfer kennen. Und ich finde, dass ich alleine dadurch einen kleinen, aber wichtigen Teil zur Erinnerungskultur beitrage. Denn mit jedem, der von jenen Geschichten erfährt, wächst das, was wir kollektives Gedächtnis nennen.
Es mag für Außenstehende pathetisch klingen, doch das nochmalige „Revuepassierenlassen“ eines solchen mir gänzlich unbekannten Lebens ist keine belanglose Tätigkeit. Es kann zu einem würdevollen Akt, zu einem liebevollen Abschied werden.
Horst Zitzer (Sonntag, 20 März 2016 18:09)
Liebe Julia,
kenne die Problematik des Scannens jetzt gerade aus eigener Anschauung.
Bin "nur" dabei eine familiekronik zu erstellen.
Viel glück bei deiner weiteren Arbeit.
Herzliche Grüße
Horst
Leider kann man den (meinen) text bei der Eingabe so gut wie nicht leseen.
Deshalb sicher viele tippfehler.
Jutta Frick (Montag, 21 März 2016 22:12)
Liebe Julia!
Ich bin sehr beeindruckt - das ist (einmal mehr) nicht nur ein überaus motivierter und informativer Eintrag, sondern auch ein literarisch-sprachlicher, sowie philosophisch-feinfühliger Hochgenuss!
Liebe Grüße
deine Mama
Anita (Dienstag, 22 März 2016 10:05)
Liebe Julia, auch wenn ich mich erst heute wieder mal melde, so kann ich doch versichern, dass ich alle Beiträge mit Begeisterung gelesen habe. Begeisterung deshalb, weil ich es bewundere, dass sich so ein junger Mensch wie du sich so mit der Familiengeschichte auseinandersetzt und auch mit der schlimmen Geschichte dieser Zeit. Ich bin seit langem dabei herauszubekommen, wie eine ganze Generation zu so schlimmen Taten fähig war. Geholfen hat mir dabei das Buch "Nachruf" von Stefan Heym.
Zu der Beschreibung, dass Jugendliche in so einer Gedenkstätte nicht das nötige Verständnis aufbringen, möchte ich nur sagen, dass ich sogar das verstehe. Als wir in der 9. Klasse des Gymnasiums waren, fuhren wir 1965 auf Klassenfahrt nach Weimar. Auf dem Ettersberg, dem KZ, hatten wir auch nicht den nötigen Ernst. Für uns waren die 20 Jahre vor dem Krieg so.... lange her und trotz Vorbereitung im Geschichtsuntericht war es für uns ganz weit weg. Erst die spätere Erinnerung bringt uns die schlimme Geschichte näher.
Herzliche Grüße von Anita