Stille Eindringlichkeit - Filmkritik zu "Nebel im August"

Seit dem 29. September läuft der Film „Nebel im August“ in vielen deutschen Kinos. Er erzählt die wahre Geschichte von Ernst Lossa, einem jenischen Jungen, der 1944 im Alter von nur vierzehn Jahren in einer Nervenheilanstalt ermordet wurde. Ich hatte die große Ehre, der Berliner Premiere beizuwohnen und im Anschluss an den Film zusammen mit dem Regisseur Kai Wessel („Die Flucht“), dem Produzenten Ulrich Limmer („Das Sams“), dem Psychiater Prof. Dr. Michael von Cranach und der Bundestagsabgeordneten Hiltrud Lotze (SPD) auf einem Gesprächspodium zu diskutieren.

 

 

‚Euthanasie‘ als ideologisches Kontinuum

Selten habe ich so lohnende, bewegende Stunden in einem Kinosaal verbracht – was für ein mächtiger Film! Was da am 29. September auf der Leinwand im „Filmkunst66“ zu sehen war, ist das gelungene Ergebnis eines jahrelangen Kampfes. Es sei schwer gewesen, den Film zu realisieren, verrät Ulrich Limmer, oft habe man ihm gesagt, dass es doch wirklich schon viele Filme „über die Nazis“ gäbe. Doch zum einen gab es bisher noch keinen Film über die NS-‚Euthanasie‘ – und zum anderen ist jene „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (so der Titel eines Buches, das 1920 von dem Juristen Karl Binding und dem Mediziner Alfred Hoche veröffentlicht wurde) keine Erfindung des Dritten Reiches, wie auch Prof. Dr. Michael von Cranach betont. Vielmehr, so könnte man formulieren, handelt es sich um ein ideologisches Kontinuum der Stigmatisierung, um die Einteilung in gesund und krank, in lebenswert und lebensunwert – in erwünscht und unerwünscht.

 

Ernst Lossa – ein untypisches Beispiel?

Nicht nur bei der Berliner Premiere, auch in vielen Zeitungsartikeln wurden Stimmen laut, die kritisieren, dass Ernst Lossa ja gar nicht krank oder behindert gewesen sei. Greift man diese oder ähnliche Kritikpunkte auf, wird schnell deutlich, wie nötig dieser Film ist. Ernst Lossa war ein unangepasster Junge, und er war Angehöriger der Jenischen, eines fahrenden Volkes. Auf den ersten Blick stellt der damit eine Minderheit in der Minderheit dar, doch ist dem wirklich so? Gehen wir nicht allzu oft – und meist unbewusst – von den nationalsozialistischen Klassifizierungen aus, wenn wir zu wissen meinen, wer damals „krank“ war und wer nicht? Und zeigt eine solche Diskussion nicht auch, wie schnell wir selbst heute noch Menschen in Schubladen stecken und dass wir daran dringend etwas ändern sollten?

 

Frei von Klischees

„Nebel im August“ ist authentisch, ungekünstelt. Der Film kommt nicht mit der brutalen Wucht daher, die man angesichts der Thematik erwarten könnte, vielmehr ziehen einen die stille Eindringlichkeit und die erschreckende Sachlichkeit der (zu jeder Zeit absolut glaubwürdig umgesetzten) Dialoge in ihren Bann. Auch das Brechen mit sämtlichen „Nazi-Klischees“ macht diesen Film so überzeugend. Es gibt keine typischen Täter, keine typischen Opfer. Wenn der Klinikdirektor mit den Kindern spielt, glaubt man ihm dies ebenso, wie wenn er die Todesliste „für heute Nacht“ an sein Personal herausgibt. Mit Ausnahme des vermutlich bewusst schwach gezeichneten Charakters der Kinderkrankenschwester Edith Kiefer trifft der Zuschauer auf hoch differenzierte Personen – und erschrickt vielleicht, wenn er bemerkt, dass auch sie Menschen waren.

 

Hochaktuelle Thematik

Doch darf man einen solchen Film überhaupt drehen? Dies ist eine Frage, die angesichts der filmischen Auseinandersetzung mit der NS-‚Euthanasie‘ unweigerlich im Raum steht. Die ästhetische Darstellung nationalsozialistischer Verbrechen wird seit jeher kontrovers diskutiert und lässt sich sicher nicht pauschal mit Ja oder Nein beantworten. Im Fall von „Nebel im August“ aber ist die Antwort meiner Meinung nach ein klares Ja. Denn würde man, um Kai Wessel zu zitieren, den Opfern keine Stimme geben, dann gliche dies einem zweiten Mord an ihnen. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass das behandelte Thema beileibe kein historisches, sondern angesichts von Sterbehilfe und Pränataldiagnostik ein hoch aktuelles ist.

 

„Nebel im August“ ist ein Film, der einen umfängt, ohne die Sinne zu betäuben. Und wenn sich der Vorhang zu den berührenden wie unprätentiösen Streicherklängen Martin Todsharows langsam schließt, dann hat man kein Kino besucht und keine Geschichtsstunde absolviert. Man hat Menschen kennengelernt.

 


Kommentare: 2 (Diskussion geschlossen)
  • #1

    Thomas Larisch (Freitag, 09 Dezember 2016 11:00)

    Hallo und Danke für die Besprechung des Films. Ich hoffe, ich finde ihn noch in einem Kino...

    Zum Thema Euthanasie hat Hans Schmid auf der Website des Magazins Telepolis eine sehr interessante und hintergründige Analyse des NS-Propaganda-Films Robert Koch, der Bekämpfer des Todes veröffentlicht. Er betrachtet darin in mehreren Folgen die Mitwirkenden und ihre jeweiligen Hintergründe und weitere Publikationen. Möglicherweise interessiert es Sie ja:

    https://www.heise.de/tp/features/Emil-und-der-Menschenhelfer-3353441.html

    Schöne Grüße

    Thomas Larisch

  • #2

    Julia Frick (Samstag, 10 Dezember 2016 12:10)

    Ich danke Ihnen für den Hinweis! Habe den Anfang der Analyse gerade überflogen und bin wirklich schockiert ... was für ein unreflektierter Umgang mit diesem (man will es fast nicht so nennen) "Genre" des NS-Propagandafilms.