Es gibt sie, diese Momente, in denen ich altbekannte Dinge - auf einmal und ohne logische Erklärung - mit anderen Augen sehe. Und so schweifte mein Blick in diesem Jahr am 2. Weihnachtstag nach dem Abendessen durch das Wohnzimmer meiner Eltern, während ich den Gesprächen lauschte, und blieb an dem alten Schaukasten mit den Taschenuhren hängen.
Er hängt dort, seit ich denken kann. Hinter der Glasscheibe mit dem ovalen Holzrahmen befinden sich fünf alte Taschenuhren auf dunkelrotem Samt. Woher sie stammen, wem sie einmal gehörten – Fragen wie diese hatte ich mir bis zu jener Sekunde nie gestellt. Und ich würde sie mir wohl auch weiterhin nicht stellen müssen, zumindest was eine von ihnen anging. Denn mit einem Mal war ich mir sicher, dass eine dieser Uhren meinem Opa Walter gehört hatte. Sekundenlang starrte ich auf den Kasten und meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln.
Als der Essenstisch abgeräumt war, ging ich zielstrebig auf den Kasten zu und nahm ihn von der Wand. Nacheinander holte ich die Uhren heraus und öffnete sie vorsichtig. Dabei wusste ich genau, was ich suchte: Gravuren, Initialen, Inschriften. Denn mein Opa hatte die dankenswerte Eigenschaft, einige seiner liebsten Dinge mit seinem Namen zu versehen.
Und tatsächlich, ich sollte nicht enttäuscht werden. Die letzte Uhr offenbarte mir die folgenden Zeilen:
"Gebrüder Escales in Zweibrücken zur Erinnerung an das Fabrikjubiläum 1851 - 1. April 1901 ihrem Weber J. Frick" ist auf die Innenseite der Uhr kunstvoll eingraviert. Und wenige Zentimeter darüber steht in zackiger Handschrift, ganz unscheinbar und nur im richtigen Licht zu lesen - W. Frick.
Jakob Frick war mein Ururgroßvater und arbeitete als Weber in Zweibrücken. Ob am Ende des Kettchens auf dem Foto wohl jene Uhr hing? Walter hatte sie von seinem Großvater geerbt, und nun habe ich sie von meinem Großvater geerbt. Das ist zweifelsohne ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk - vielleicht das schönste, das ich jemals bekommen habe.
Horst Zitzer (Donnerstag, 29 Dezember 2016 09:31)
Liebe Julia,
ganz tol deine "Erfahrungen", ich hatte auch eine alte Uhr meines Vater im Schreibtisch, irgendjemand hat sie geklaut. Ich bin halt zu glutgläubig.
Liebe Grüße auch an die Eltern,
Horst
Anita Schmoll (Donnerstag, 29 Dezember 2016)
Liebe Julia, das war ja wiedermal eine ganz besondere Fügung in Deinem Leben. Ein bisschen beneide ich dich darum, da in unsrer Familie durch Flucht und Vertreibung am Ende des zweiten Weltkrieges fast alles verloren gegangen ist. Es gibt leider keine alten Dachböden, Schubladen.... wo man was finden kann. Da ich trotzdem immer auf der Suche bin nach Spuren der Eltern, Großeltern, Urgroßeltern bin, kann ich das Hochgefühl und das Glück über diesen Fund sehr gut verstehen.
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Herzliche Grüße sendet Ihnen Anita Schmoll